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Helfen und Heilen

Machen Berufe im Gesundheitswesen glücklich, trotz Frust?

Fernsehen, Rundfunk, Zeitungen, Plakate, Internet. Ist Ihnen irgendwo schon einmal eine zündende Werbung für das Erlernen eines Pflegeberufes aufgefallen? Nein? Aber sicher kennen Sie die ständigen Klagen der Krankenhäuser, der Seniorenheime, der Pflegeeinrichtungen über den Personalmangel in den pflegerischen Berufen. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass sich die Politik zu wenig um diesen seit Jahren bekannten Pflegeengpass kümmert? Obwohl er von so hoher Bedeutung für Gesundheit und Wohlergehen der jungen wie der älteren Bevölkerung ist? Wofür sind Gesundheitsminister denn da?

Sicher – so einfach darf man es sich nicht machen beim Urteil über das Abtauchen der Gesundheitspolitik in der Pflegefrage. Aber das ständige Wiederholen der Floskel von den fehlenden Pflegekräften nervt. Schließlich gab es einmal eine Zeit, da drängten sich insbesondere junge Frauen geradezu danach, Berufe im Gesundheitssektor zu ergreifen. Die „Arzthelferin“, die Pharmazeutisch- Technische Assistentin („PTA“), die „Apothekenhelferin“, die „Krankenschwester“, die „Altenpflegerin“ – sie galten als attraktive und sichere Berufe. Und sie waren hoch angesehen in der Bevölkerung. Neueste repräsentative Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des deutschen Beamtenbundes nach den Berufen mit dem höchsten Ansehen zeigen – das sind sie auch heute noch! Nach Platz 1, dem Beruf des Feuerwehrmannes – gendergerecht natürlich auch dem der Feuerwehrfrau – belegen Ärzte, Krankenpfleger und Altenpfleger die nächsten drei Spitzenplätze. Täglich für Menschen und mit Menschen arbeiten – es gibt nicht viele Tätigkeiten, die aufregender sind. Und die so hoch stehen in der Wertschätzung der Gesellschaft. Doch nicht nur Kliniken und Altenheime, auch Arztpraxen und Apotheken klagen aktuell über nachlassendes Interesse an diesen spannenden Gesundheitsberufen.

Woher also das Missverhältnis zwischen dem hohen Ansehen der pflegerischen Berufe in der Bevölkerung und dem Frust der dort Tätigen? Warum kündigen Angehörige des Pflegepersonals in Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen ihre festen Arbeitsplätze und suchen sich einen anderen Job? Es ist nicht nur „Lust auf was Neues“. Pflegekräfte spüren heute eine physische und psychische Belastung, die viel ausgeprägter ist als noch vor Jahren. Und das nicht nur auf Grund der Corona-Pandemie. Es ist das seit längerem schon krasse Missverhältnis zwischen der Zahl der Pflegekräfte und der Zahl der zu versorgenden Patienten und Pflegebedürftigen. Es ist der tägliche Kampf um Minuten, die verantwortungsvolle Pflegende den ihnen anvertrauten Menschen gerne schenken würden. Die aber in Stress und Hektik versickern, weil zu wenig Pflegepersonal zu viele Menschen zu versorgen hat.

Wo der Rotstift im Gesundheitswesen regiert, bleibt der Mensch auf der Strecke. Claus Fussek,Sozialarbeiter,Buchautor undseit Jahrzehnten einer der bekanntesten Kenner und Kritiker des deutschen Pflegesystems, prangert seit langem in seinen Büchern, Vorträgen und Interviews die Missstände in der Altenpflege an. Doch mehr noch, dass sich die Politik nicht darum kümmert. Er versteht auch nicht, dass die Heime und deren Träger sich nicht wehren, sich nicht zusammenschließen gegen die personelle Mangelwirtschaft. Es ist nicht zu leugnen, viele, vielleicht die meisten Alteneinrichtungen haben sich letztlich damit abgefunden. Belastend für Pflegende und Gepflegte.

Mehr Pflegekräfte kosten mehr Geld. Dass die Gesellschaft nicht mehr Geld für die würdige Versorgung alter und kranker Menschen bereitstellen will, ist der eigentliche Skandal. Das muss sich ändern. Es kann sich nur ändern, wenn Dienst an der Gesellschaft wieder als große Herausforderung gesehen wird. Könnte ein soziales Jahr für alle Schulabgänger den Blick für die Probleme alter und kranker Menschen wieder schärfen? Millionen junger Menschen sind in den Zeiten, als es das soziale Jahr noch gab, nach Hause gekommen und haben erzählt. Auch das, was in ihrem Arbeitsumfeld schief lief. So gesehen hat die Pandemie auch ihr Gutes. Sie hat die Frage nach den Versorgungsproblemen in der Pflege wieder brutal nach oben gespült. Jetzt muss die Politik reformieren, die Arbeitsverhältnisse verbessern, die Bezahlung leistungsgerechter gestalten, die Anerkennung deutlicher herausstellen.

Doch es gibt zwei Arten von Reformen – die echten und die für die Galerie. Die sollen nur so aussehen, als geschehe etwas Fundamentales. Die letzten Reformen im Bereich der Gesundheitsberufe unter Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn machten aus der "Arzthelferin" die MFA, die "Medizinische Fachangestellte", aus der "Kinderkrankenschwester" die "Pflegefachfrau" und aus dem "Altenpfleger" den "Pflegefachmann". Aus bekannten und geachteten Berufsbezeichnungen, die die Träger mit Stolz vorzeigten, wurden geschraubte Allerweltsbegriffe. Hintergrund – die verschiedenen Ausbildungsberufe wurden zusammengefasst. Von allem etwas verstehen statt von einem alles soll die Durchlässigkeit zwischen den Pflegeberufen erhöhen. Die Kinderkrankenschwester von heute könnte so die Altenpflegerin von morgen sein. Doch am Missverhältnis zwischen dem Pflegepersonal und den zu pflegenden Patienten und Alten ändert sich rein garnichts. Den Sinn solcher Reformen versteht wohl nur noch die „Arbeitsebene“ unterhalb des zuständigen Ministers.

Zum Glück ändern Reformen dieser Art nichts am Wesen der Berufe im Gesundheitswesen. Sie ändern nichts daran, dass man in einem Gesundheitsberuf jeden Tag aufs Neue mit Menschen zu tun hat, nicht mit Zahlen oder Tonnagen. Das ändert nichts daran, dass man als aktives Mitglied dieses Gesundheitswesens jeden Tag Vertrauenskapital an kranke und alte Menschen verschenken darf. Und dass man jeden Tag wieder neues Vertrauen gewinnt. Und Dankbarkeit. Das ändert auch nichts daran, dass man nach der Arbeit nach Hause gehen kann mit dem Gefühl, wirklich etwas Großes und Gutes geleistet zu haben. Auch wenn es manchmal zu viel ist. Auch wenn manchmal der Frust regiert. Auch wenn manchmal der Tod ein ungebetener, aber unausweichlicher Tagesgast ist. Es sind Menschen, die man umsorgt. Helfen und Heilen kann glücklich machen.

Wir sind mittendrin im 21. Jahrhundert – im „Jahrhundert der Gesundheit“. Das sagen nicht nur Ökonomen, Mediziner und Pharmakologen. Sicher gibt es in jeder Branche immer wieder große Umwälzungen. Aber in keiner wird es so innovativ zugehen wie in der Gesundheitsbranche. Neue Technologien treiben die Entwicklung neuer Medikamente. Von den dreißigtausend bekannten Krankheiten sind achttausend noch nicht behandelbar. Die Arzneimittel müssen erst noch erfunden werden. Doch die sensationell schnelle Entwicklung der Impfstoffe gegen den Covid-19-Virus macht Hoffnung. Und die Medizintechnik wartet mit immer neuen Operations- und Rehamöglichkeiten auf. Ein Gesundheitssystem wie das deutsche mag zeitweise überlastet sein. Aber gefährdet sein wie das Bankwesen vor Ort oder überflüssig werden wie der Kohlebergbau kann es nie.

Hinzu kommt, dass Deutschland ein reiches Land ist. Die Bevölkerung erwartet geradezu ein gut ausgestattetes Gesundheitswesen. Das kann Menschen in Gesundheitsberufen Sicherheit in stürmischen Zeiten geben. Besonders den jüngeren. Jedenfalls mehr als „was mit Medien“ studieren oder sich auf eines der unsäglich spezialisierten Studienfächer mit den interessanten Namen stürzen, mit denen die Hochschulen um die Aufmerksamkeit der Studienberechtigten buhlen. Ja, sie geradezu verführen. Dazu passt, wenn, wie geschehen, ein Dozent zu den Erstsemestern sagt: „Schauen Sie sich Ihre beiden Kommilitonen rechts und links an, einer von beiden wird im nächsten Semester nicht mehr neben Ihnen sitzen.“ Da ist der Studienabbruch vorprogrammiert.

Dagegen eine solide Ausbildung. Zur Pflegefachkraft im Krankenhaus oder in der Altenpflege.Zur Arzthelferin in einer Arztpraxis. Zur Pharmazeutisch-Technischen oder zur Pharmazeutisch-Kaufmännischen Assistentin in einer Apotheke. Oder in einem der vielen anderen Berufe im Gesundheitswesen. Was sind schon zwei oder drei Jahre, wenn man danach einen Beruf hat, auf den man stolz sein kann? Und was noch wichtig ist – es gibt kaum Berufe, die sich besser für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eignen. Die fast immer mögliche Halbtagsarbeit mag für die Personalplanung ein Problem darstellen, für die Familienplanung ist sie ideal. Ein „Rückkehrproblem“ gibt es nicht. Immer und überall werden sie gebraucht. Die pflegenden, heilenden und helfenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrem großen Einsatz und dem großen Herzen. Der Dank der Gesellschaft, das sind nicht die Kerzen in den Fenstern, es ist das hohe Ansehen dieser Berufe in der öffentlichen Wahrnehmung.

Das „Jahrhundert der Gesundheit“ – mitmachen, mitgestalten. Man muss sich nur entscheiden. Und dann dabei bleiben – trotz Frust. Dabei sein ist alles.