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Respekt für Dich?

Nach der Welle ist vor der Welle. Die Regierung muss handeln

"Respekt für Dich". Unzählige Plakate mit diesem Versprechen und dem Kopf des damals noch-nicht-Kanzlers haben Scholz den Weg ins Kanzleramt geebnet. Offensichtlich kam seine Botschaft bei den Wählern gut an. Mit knapper Mehrheit machten sie die SPD zur Kanzlerpartei. Schließlich möchte jeder Bürger gerne, dass die Regierung ihm mit Respekt begegnet. Dass sie ihn ernstnimmt. Dass sie ihn nicht belügt. Dass sie nicht mit falschen Zahlen operiert. Dass sie alles tut, um ihn zu schützen. Und dass sie ihn nicht über Gebühr belastet. Weder emotional noch organisatorisch noch finanziell. Nichts anderes bedeutet "Respekt für Dich".

Neuer Kanzler, neue Regierung, neuer Elan im Kampf gegen Corona? Mit Respekt für die Schüler, die Studenten, die Künstler, die Einzelhändler, ja, für alle Bürger? Nach dem Corona-Missmanagement von Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in den letzten zwei Jahren muss sich einiges ändern. Und zwar schnell. Was die Bevölkerung erwartet? Vor allen Dingen schnellere Entscheidungen und konsequenteres Handeln. Weniger Ankündigungen und mehr Ergebnisse. Genauere Zahlen und die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Jedenfalls mit großer Mehrheit. Und endlich einen Masterplan zum Ausstieg aus der Corona-Misere. Andere Länder machen es vor. Sie marschieren mit großen Schritten vorwärts. Und damit zurück in die Normalität. Wir trippeln hin und her. Und hinterher.

Heraus aus den Lockdowns, heraus aus den Einschränkungen im wirtschaftlichen, kulturellen, akademischen, schulischen, sportlichen und privaten Bereich – das sollte das erste und wichtigste Ziel dieser neuen Regierung sein. Passiert da etwas? Eher nicht. Solange die aktuelle Virus-Welle über das Land schwappt, solange kann nichts gelockert werden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagt, der Vergleich mit anderen Ländern ziehe nicht. Da seien die Verhältnisse ganz anders. Möglich, aber dennoch befremdend. In der Schweiz sind die Opernhäuser voll besetzt, nicht jeder zweite Platz. Trotz einer Inzidenz von 1500. In England geht es seit Monaten ohne massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens. In Dänemark sitzen die Kinder ohne Masken in der Schule. Und Österreich vertraut auf die kurzfristige Einführung der Impfpflicht.

Deutschland starrt nach wie vor auf die Inzidenzen. Dabei hatte schon die alte Regierung die Hospitalisierungsrate statt der Inzidenz zum Maßstab für freiheitseinschränkende Maßnahmen gemacht. Hospitalisierungsrate – das ist die tägliche Einlieferung von Covid-Patienten ins Krankenhaus. Dafür wertetdie DIVI – die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. – die Belegung der Intensivbetten von 1270 Krankenhäusern tagesaktuell aus. Insgesamt seien die Aufnahmezahlen in den Kliniken seit Monaten fallend, sagte Dr.Gerald Gass, der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, in einem Interview der Bildzeitung. Und er ist guter Hoffnung, dass es so bleibt. Aber auch Gass konnte neue Wellen und neue Viren in der Zukunft nicht ausschließen.

Mit dem Beginn der Pandemie ist eine neue Zeit angebrochen. Das Mittelalter litt unter der Pest. Die entvölkerte halb Europa, weil es kein Gegenmittel gab. Die weltweite Corona-Pandemie trifft uns heute und jetzt. In unserem aufgeklärten und technisch hochentwickelten Zeitalter. Dennoch konnten wir zwei Jahre lang die Pandemie nicht in den Griff bekommen. Trotz schnell entwickelter Impfstoffe. Und in Zukunft? Jede neue Virus-Welle kann theoretisch das Gesundheitssystem zusammenbrechen lassen. Gestern hieß das Virus "Delta", heute "Omikron", und morgen? Vorsorglich verkündet Gesundheitsminister Karl Lauterbach ja schon, dass mit Omikron die Pandemie nicht beendet sei. Allerdings auch, dass das A und O der Pandemiebekämpfung die Impfung ist.

Nicht nur Lauterbach – alle Experten halten die Impfung für den Schlüssel zur Beendigung nicht nur dieser Pandemie. Auch zur Bekämpfung von zukünftigen Wellen und Viren wird eine schnelle Durchimpfung der Bevölkerung unerlässlich sein.Aber müsste dann nicht die Regierung dafür sorgen, dass jede Frau, jeder Mann und jeder Jugendliche zweifach, dreifach, ja, vierfach, wenn notwendig, geimpft und geboostert wird? Und zwar auf dem schnellsten Wege? Mit den kürzesten Abständen, die medizinisch vertretbar sind? Und mit genügend Impfstoff? Alles andere wäre unverantwortlich. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

Warum sind drei Millionen der über Sechzigjährigen auch nach zwei Jahren Pandemie noch nicht ein einziges Mal geimpft? Und sieben Millionen noch nicht geboostert? Auch heute noch kommt es in Altenheimen immer wieder zu plötzlichen Sterbefällen wegen eines Corona-Ausbruchs. Die Bewohner sind zwar geimpft, aber noch nicht geboostert. Muss man das so akzeptieren? Was stand oder steht dem Boostern im Wege? Oder besser – wie kann man das Boostern in allen Heimen innerhalb weniger Wochen flächendeckend organisieren? Vielleicht doch nur durch die Impfpflicht für alle? "Respekt für Dich" hat auch etwas mit Fürsorge für diejenigen zu tun, die sich nicht selbst helfen können.

Nichts hat ja die Gesellschaft in den letzten Monaten so gespalten wie die Frage "Impfpflicht – ja oder nein?" Verständlich, es geht ja schließlich um einen Eingriff in den eigenen Körper. Ein Eingriff? Es ist nur ein Pieks. Wie der Pieks, den jedes Baby mit der Sechsfach-Impfung bekommt. Wie der Pieks gegen Masern, Tetanus, Diphterie, Hepatitis und Tropenkrankheiten, wenn man in Länder der dritten Welt reist. Wie der Pieks, den bis zum 15. März alle Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeheimen akzeptieren müssen. Wie der Pieks, den alle Angehörigen der Bundeswehr schon längst hinter sich haben. Und nicht zuletzt wie der Pieks, den schon über 70 % der Bevölkerung nicht nur einfach, sondern mehrfach ertragen haben, ohne Zirkus zu machen.

Aber für Impfgegner, Coronaleugner und die FDP – immerhin Mit-Regierungspartei – ist der kleine Pieks ein Grundsatzproblem. Deshalb stottert der Motor, der die Impfpflicht voranbringen soll. Deshalb konnte die neue Regierung nicht schnell handeln. Deshalb mussten sich Kanzler Scholz und Gesundheitsminister Lauterbach verbiegen und auf einen eigenen Gesetzentwurf verzichten. Obwohl sich beide ausdrücklich für eine Impfpflicht ausgesprochen haben. Weil Teile der FDP ungerührt einen eigenen Gesetzentwurf gegen die Impfpflicht propagierten. Politische Spielereien statt Respekt für die Bevölkerung mit ihren Sorgen. Dabei kann niemand, auch die FDP nicht, in die Zukunft schauen. Ob etwa nach dieser Welle nicht eine nächste kommt.Und schon gar nicht, ob auf das womöglich etwas weniger aggressive Omikron nicht eine neue, wesentlich bösartigere Virusvariante folgt. "Wenn ich es nicht sehe, dann sieht es mich auch nicht". Das sagen eigentlich nur kleine Kinder.

Aber Impfpflicht für alle – und das so schnell wie möglich – wie könnte das gehen? Wenn die Impfpflicht sinnvoll ihrer Bestimmung dienen soll, nämlich dem Ende der Freiheitsbeschränkungen, dann gehört ein ständiges Impfregister dazu. Sonst fängt man beim nächsten Virus wieder von vorne an. Und Zeit kostet Menschenleben. Das wissen wir heute. Aber Bedenkenträger aller Art stemmen sich dagegen. Deren Motive sind nicht immer so klar wie bei den Datenschützern. Die wollen Daten schützen. Das ist ihre Aufgabe. Aber das schiebt ein Ende des Pandemie-Ausnahmezustands nur weiter hinaus. Die Regierung hätte es in der Hand, schnell einen Gesetzentwurf dazu vorzulegen. Doch Fehlanzeige. Was ist das für ein Verständnis von politischem Gestaltungswillen?

Boris Palmer, erfolgreicher Oberbürgermeister von Tübingen, meint, es sei "ein Klacks", eine Impfpflicht auf kommunaler Ebene einzuführen. Die Adressen der Einwohner seiner Stadt habe er. Dazu bediene er sich des Einwohnermeldeamtes und der Bußgeldstelle. Und jeden Bürger anzuschreiben dauere nur eine Woche. Nun steckt bekanntlich ja der Teufel im Detail. Aber der Noch-Grüne Palmer – im Herbst will er bei der OB-Wahl antreten, aber nicht mehr für die Grünen – hat während der Pandemie schon oft mit unkonventionellen Maßnahmen aufsehenerregende Erfolge erzielt. Er bietet sich sogar als "Modellkommune" an. Welcher "Macher" in der Regierung ruft ihn an und gibt ihm grünes Licht?

Wir haben einen neuen Bundeskanzler. Olaf Scholz, SPD. Zwei Monate ist er zwar jetzt schon im Amt. Doch von Regieren und Führen merkte man bisher wenig. Zu wenig. "Wo ist Olaf Scholz?" fragte die "Welt am Sonntag" und zeigte ein Wimmelbild auf ihrer Titelseite. Und hunderttausende Leser suchten ihn. Andererseits – zwei Monate, das sind noch nicht die berühmten "ersten hundert Tage". Die soll man ja jedem neuen Amtsträger zubilligen, bevor man ein erstes Urteil fällt. Aber Neuling in der Regierungsarbeit ist Bundeskanzler Scholz nun wirklich nicht. Regierender Bürgermeister in Hamburg war er und Bundesarbeitsminister und Bundesfinanzminister und Stellvertretender Bundeskanzler. Da hat man keinen Anspruch auf hundert Tage Schonzeit.

Scholz muss handeln.