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Nachts im Ministerium

Die Fakten. Man kann nicht oft genug daran erinnern. Im Jahre 2000 wurden die Patienten in Deutschland noch von 21 600 Apotheken versorgt. Weniger als 18 500 sind es heute. 3 100 Apotheken dicht – die Krankenkassen jubeln. Ohne Grund. Denn wenn der Trend anhält, wird es im Jahre 2040 nur noch 15 000 Apotheken in Deutschland geben. Dann werden wir von einem Flickenteppich von Apotheken versorgt. Mit endlos weiten Wegen. Mit drastisch weniger Anlaufpunkten bei Epidemien und Pandemien. Mit einer pharmazeutischen Akutversorgung der Bevölkerung im untersten europäischen Drittel. Hat es die Gesundheitspolitik dann endgültig geschafft? 

Krankenhäuser, Arzneimittel und Apotheken – warum wird an diesen Grundpfeilern unseres Gesundheitswesens permanent gerüttelt? Ist es, weil sich der Staat wenigstens auf diesem Sektor mit Eingriffen in den Markt ungehindert austoben kann? Ist es, weil die Aufwendungen der Krankenkassen für die Patienten immer nur als „Kosten“ diffamiert werden? Steigen sie, wird das als Alarmsignal gesehen. Und sofort rufen die Kassen nach drastischen Reformen. Wie aktuell wieder geschehen. Dass diese Art von „Reformen“ immer zu Lasten der Apotheken und der Arzneimittel gehen, ist eingeübte Praxis. Aus Erfahrung klug zu werden ist eben nicht so einfach.

Dabei ist das Gesundheitswesen, gemessen an der Zahl der Beschäftigten, der zweitgrößte Wirtschaftszweig in Deutschland. Ist es deshalb überhaupt richtig, Wachstum im Gesundheitswesen nur als reinen Kostenfaktor zu bewerten? In Bezug auf den Automobilsektor, die Maschinenbauindustrie oder die Exportwirtschaft – unvorstellbar. Da wird jedes Wachstum, jeder wirtschaftliche Erfolg gebührend gefeiert. Im Sektor Gesundheit hingegen ist jeder Gesundheitsminister stolz darauf, mit „seinen“ Gesundheitsreformen zur Dämpfung dieses so bedeutenden Sektors unserer Volkswirtschaft beigetragen zu haben. Auch wenn bewährte Strukturen dabei unter die Räder kommen. 

Nun sehen wir ja aktuell wieder einmal, was falsche Entscheidungen der Politik für dramatische Folgen für unser Land haben können. Niemand in Regierungskreisen hat geglaubt, dass die fatale Abhängigkeit von Gas- und Ölimporten aus Russland uns einmal so schaden könnte. Sowohl wirtschaftlich als auch im Ansehen der Nationen. Obwohl – Mahnungen von dritter Seite gab es genug. Nur wollte sie niemand hören. Genau so ist es bei der Diskussion über die seit vielen Jahren drastisch sinkende Zahl der Apotheken. Mahnungen verhallen ungehört. Wird schon alles nicht so schlimm werden. Wozu haben wir schließlich den Arzneimittelversandhandel? Ja – wozu?

Wohlgemerkt – die Rede ist hier nicht von den kleinen Apotheken-Internetshops. Die haben manche Apotheken eingerichtet, um nicht jede Option auf die Zukunft zu verlieren. Hier geht es um die großen Arzneimittelversandkonzerne, die von jenseits der Grenzen mit ihrer aggressiven Preisstrategie den deutschen Apothekenmarkt aufmischen. Die schnell gewachsen sind und immer noch wachsen. Dabei gibt es bedeutende Großversender, die seit der Einführung des Arzneiversandhandels vor achtzehn Jahren bis heute nur Verluste gemacht haben. Ein irritierendes Geschäftsmodell. Noch irritierender ist allerdings, dass es deutsche Gesundheitsminister waren, die ausländischen Arzneiversandkonzernen erlaubten, durch das „Erwirtschaften“ hoher Verluste den heimischen Apothekenmarkt zu zerstören. Man suche nur einen Mitgliedsstaat in der Europäischen Union, der diese Politik nachahmenswert findet. 

Bei uns jedoch hat der Aderlass an Apotheken noch bei keinem Gesundheitsminister – gleich welcher Partei – ein Störgefühl erzeugt. Sie alle sahen tatenlos zu, wie der Rückgang der Erträge eine Apotheke nach der anderen zur Aufgabe zwang. Dreitausend Apotheken in nur zwanzig Jahren. Ja, einige Minister – nicht nur aus dem Gesundheitsressort – hofierten die Versandkonzerne geradezu, durch persönliche Besuche, durch Lagerführungen, durch öffentliches Lob. Und durch „Wegschauen“. 

Wegschauen? Wie anders soll man bewerten, dass bei den ausländischen Versandkonzernen nicht mit den gleichen strengen Maßstäben gemessen wird wie bei den deutschen akutversorgenden Apotheken? Das fängt bei der fehlenden Kontrolle der Betriebe jenseits der Grenzen an. Das setzt sich fort bei der mangelnden Überwachung der Vertriebs- und Lieferwege, für die sich in Deutschland kein staatlicher Amtsapotheker verantwortlich fühlt. Und das gipfelt in der gesetzlichen Verpflichtung der deutschen Apotheken zur persönlichen Beratung. Versandapotheken ersetzen die gemeinhin durch ein Beratungsangebot auf einer Webseite. Doch welcher Kunde nimmt das an?

Man kann auch aktueller argumentieren. Entspricht die enorme Logistik von Einzelpackungen in einzelne Haushalte bei steigenden Benzin- und Strompreisen und neuen ehrgeizigen Klimazielen noch der Befriedigung eines drängenden Kundenbedürfnisses, wenn selbst Artenschutz, Abstandsregeln und Bürgereinsprüche beim Bau von Windrädern auf der Strecke bleiben? Und ist es erstrebenswert, dass einige wenige große Konzerne jenseits der Grenzen die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung in zunehmendem Maße an sich reißen? Zwar spielt sich diese Strukturveränderung innerhalb von Europa ab. Aber hat uns die Pandemie nicht gelehrt, dass in gesundheitspolitischen Krisenzeiten jedes Land sich selbst das nächste ist? Ist nicht Dezentralisierung, die Verteilung der Versorgung auf viele Schultern vor Ort, nah am Patienten, das Gebot der Stunde? Es ist höchste Zeit, den Apothekenmarkt in Deutschland zu stärken statt ihn weiterhin zu schwächen.

Die Gesetzlichen Krankenkassen haben durch die Pandemie hohe Ausgaben gehabt. Jetzt haben sie Sorge, dass sie die Zusatzbeiträge bei ihren Versicherten anheben müssen. Die einen mehr, die anderen weniger. Das könnte zu Mitgliederwanderungen unter den Kassen führen. Krankenkassen mögen das nicht. Deshalb haben sie nach „Reformen“ durch den Bundesgesundheitsminister gerufen. Das Ministerium hat prompt reagiert. Reflexartig hat es die Pläne früherer Gesundheitsreformen aus den Schubladen gekramt. Und ist damit an die Öffentlichkeit gegangen. Zwar etwas zu früh. Denn nach Protesten wurde das Papier vorerst als Referentenentwurf einkassiert. Aber die Öffentlichkeit ist vorbereitet. 

Interessant auf jeden Fall das erklärte Ziel des Reformentwurfs. Wieder einmal das Übliche. In erster Linie die Drangsalierung der Pharmaindustrie und der Apotheken. Wird es dabei bleiben? Es ist ja auch schwer für einen neuen Gesundheitsminister. Immerhin hat Karl Lauterbach ein Ministerium mit 750 Mitarbeitern, sieben Abteilungen, vierzehn Unterabteilungen und über 80 Referaten übernommen. So oder ähnlich – auf jeden Fall eine komplizierte Struktur. In die muss man sich erst einmal einarbeiten. Vielleicht auch nachts im Ministerium? Denn nach eigenen Worten schläft Lauterbach zu wenig und arbeitet zu lange. Liest nachts wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Pandemie. Und twittert noch lange nach Mitternacht, um 2.37 Uhr – ein einsamer Kämpfer.

Allerdings hat man eigentlich dann auch Ruhe, über grundlegende Dinge nachzudenken. Welche Impulse will ich als Gesundheitsminister setzen? Will ich die Politik meiner Vorgänger weiterführen? Etwa weil in den Abteilungen, Unterabteilungen und Referaten meines Ministeriums seit zwanzig Jahren derselbe Geist zuhause ist? Akzeptiere ich, dass es immer die Apotheken sind, die im Fokus jeder „Sparpolitik“ stehen? Finde ich es gut, dass auch in Zukunft jedes Jahr dreihundert Apotheken für immer schließen müssen? Bin ich es, der die Richtlinien der Gesundheitspolitik bestimmt, oder überlasse ich das der „Arbeitsebene“ meines Ministeriums? 

Jeder Minister, der neu in seinem Amt ist, wächst mit seinen Aufgaben. Oder er stolpert, weil das Selbstbewusstsein größer ist als seine Fähigkeiten. Das gilt natürlich ebenso für Ministerinnen. Aktuelle Beispiele in der Koalitionsregierung gibt es für beides.

Für die akute Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln und Beratung durch die Apotheken ist zu wünschen, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu den ersteren gehört.