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"Zeitenwende?" Nein

„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Der große Philosoph Max Weber hat das vor hundert Jahren gesagt. Und damit bis heute Recht behalten. Ein treffendes Bild. Wenn sich denn die Politik daran hielte. Doch der bricht manchmal der Bohrer ab. Manchmal reicht auch die Kraft nicht. Ende mit Bohren. Dann sucht sich die Politik dünnere Bretter. Dünnbrettbohren ist seit Jahrzehnten geübte Praxis in Deutschland. Nur keine Lösungen für die großen Probleme des Landes erarbeiten. Kann das auf Dauer gut gehen?

Versprochen hat die Politik immer viel. Ob von einer „Zeitenwende“ die Rede war oder von einem „Ruck“, der durch Deutschland gehen müsse. Zu spüren ist davon nichts. Nicht im Wohnungsbau. Nicht im Straßenbau. Nicht in den Schulen. Nicht in den Krankenhäusern. Erst recht nicht bei den Apotheken. 393 haben im Jahr 2022 schließen müssen – die höchste Zahl in einem Jahr seit zwei Jahrzehnten. Doch die Politik geht darüber hinweg. Vielleicht meint sie ja, der Verlust von fast 400 Apotheken sei ein kleines Problem.

Doch das täuscht. Die Schließung von 393 Apotheken ist ein gravierender Nachteil für die gesamte Bevölkerung. Bis in die letzte entfernte ländliche Gegend hinein fehlt wieder eine Fülle pharmazeutischen Wissens, menschlicher Nähe und beruhigender Arzneimittelvorräte. Weiter auch die Wege zur nächsten Apotheke. Besonders nachts, bei schlechtem Wetter, im Notfall. Doch das merken nur diejenigen Bürger, die dringend Medikamente brauchen. Nicht wenige Gesunde hingegen sind der Meinung, dass weniger Apotheken nicht schaden würden. Warum nur?

Wer gesund ist, kann große Sprüche machen. Zuhauf  kann man sie in den Online-Foren der Zeitungen lesen, wenn die über das Apothekensterben berichten. Da ist aus Leserkreisen schnell von „Überversorgung“ die Rede. Nur weil in einer Straße zwei oder drei Apotheken gesehen wurden. Oder davon, dass man keinen Apotheker brauche, „um ein industriell hergestelltes Arzneimittel über die Theke zu reichen“.  Schnell im Internet abgesetzt zeugt der Spruch von Unkenntnis.Doch kann man das einem normalen Bürger vorwerfen, der das Glück hatte, noch nicht die Kompetenz einer Apotheke in Anspruch nehmen zu müssen? Weil er bisher gesund war?

Vielleicht hört sich ja auch die Schließung von 393 Apotheken in einem Jahr nicht nach „viel“ an? Was sind schon 393 Apotheken? Auf jeden Fall mehr als 2,2 % aller deutschen Apotheken! Auch das eine kleine, unbedeutende Zahl? Im Gegenteil. Deutschland hat 84 Millionen Einwohner. 2,2 % davon sind 1,8 Millionen. Man stelle sich vor, eine solche Menschenmenge würde Jahr für Jahr das Land verlassen. Ist das etwa wenig? Da kann man schnell ausrechnen, wann das Land menschenleer ist. Und im anderen Fall – apothekenfrei.

Natürlich gibt es unter den Lesermeinungen auch positive Beiträge.  So fragt „claudiaE“ im Leserforum der Wochenzeitung „Die Zeit“ nach dem Anteil der „Online-Apotheken“ in Deutschland. In der Antwort zeigt sich die ganze Problematik. 2020 verkauften die Versandhändler für 1,3 Milliarden Euro (!) apothekenpflichtige Arzneimittel in Deutschland. Das waren mehr als 20 % des gesamten Umsatzes in diesem Segment. Plus 457 Millionen Euro an verschreibungspflichtigen Medikamenten. Diese Umsätze fehlen den deutschen Apotheken. Und das mit Hilfe der Politik, die den Versandhandel im Jahre 2004 ohne Not erlaubte. Ein gefährlicher Unsinn, der bisher mehr als 3 500 Apotheken zur Aufgabe zwang.

90 % des Versandumsatzes teilen sich zwei holländische Versandhandelskonzerne – DocMorris und Shop-Apotheke. Dennoch sind die Aktienkurse der beiden Unternehmen unter Druck. Das liegt an den horrenden Verlusten, die sie erwirtschaften. Ruinöse Konkurrenz ist eben kein nachhaltiges Geschäftsmodell. Auch wenn die Politik weiter die schützende Hand über den Arzneimittelversandhandel hält. Was soll sie auch sonst tun? Verbieten geht nicht mehr. Der letzte, der es noch in der Hand hatte, war der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Aber er hat es vergeigt. Jetzt hoffen die beiden Konzerne auf einen großen Anteil am rezeptpflichtigen Umsatz. Mit Hilfe der neuen Elektronischen Rezepte und voller Kriegskasse. Dafür hat „Zur Rose“, die Mutter von DocMorris, sogar ihre schweizerischen Aktivitäten verkauft. Jetzt Kampf um das Elektronische Rezept? Sollen deshalb wieder tausend Apotheken sterben?

Zeit für die deutsche Gesundheitspolitik, endlich etwas dagegen zu tun. Und dicke Bretter zu bohren.