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Experteninterview Lieferengpässe: „Resilienz gibt es nicht zum Nulltarif“

©Deyan Georgiev/shutterstock

Prof. Dr. David Francas von der Hochschule Worms forscht zur Resilienz pharmazeutischer Lieferketten und hat die Datenbanken des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ausgewertet. Im NOWEDA-Interview macht er wenig Hoffnung, dass sich die Situation bei den Lieferengpässen entzerrt. Im Gegenteil: Das System operiere an der Kante, es fehlen die Puffer.

Immer wieder kommt es zu Lieferengpässen von Medikamenten. Mal sind es Fiebersäfte, mal simple Kochsalzlösung, mal ADHS-Medikamente. Sehen Sie ein Muster?
Kein Muster, aber einen Trend. Wir sehen bei den an das BfArM gemeldeten Lieferengpässen seit 2017 einen stetigen Anstieg, der sich zwar abgeflacht hat, aber seit zwei Jahren auf dem hohen Niveau von 2023 verharrt. Wenn man es positiv sehen will, hat sich die Lieferengpasssituation seitdem stabilisiert. Wenn man es negativ sehen will, dann ist es nicht gelungen, die Lieferengpässe in den letzten beiden Jahren zurückzufahren.Aus den Daten lässt sich noch ein weiter Aspekt ablesen. Etwas mehr als ein Drittel der Lieferengpässe betrifft versorgungskritische Medikamente. Also Medikamente, die für die Breitenversorgung wichtig sind und zudem bereits eine angespannte Lieferkette haben.

2023 wurde das Gesetz zur Bekämpfung der Lieferengpässe verabschiedet. Hat es aus Ihrer Sicht etwas gebracht?
Einige der Maßnahmen greifen erst zeitverzögert, wie die Umstellung der Rabattverträge. Der Trend ist nicht weitergegangen, sondern hat sich auf dem hohen Niveau von 2023 stabilisiert. Ob man das jetzt dem Lieferengpassgesetz zuschreiben möchte, ist Interpretationssache.

Gerade bei versorgungskritischen Arzneimitteln wird immer wieder über einer Rückholung der Produktion diskutiert. Wie realistisch ist ein solches Szenario?
Aus geopolitischer Perspektive sind der Welthandel und die Strukturen, an die wir uns die letzten 30 Jahre gewöhnt haben, massiv unter Druck geraten. Wir haben im Ukrainekrieg gesehen, dass man gewillt ist, Rohstoffe als Waffe einzusetzen. Die einseitige Abhängigkeit, die wir bei vielen Medikamenten in der Wirkstoffproduktion haben, ist daher sehr kritisch zu sehen. Der zweite Punkt ist, dass wir teilweise keine ausreichenden Puffer im System haben. Wir operieren hier an der Kante, ohne ausreichende Reserven. Die hohe Konzentration von Generika wie Antibiotika in Indien und China sind sicher nicht der alleinige Grund für die aktuellen Liederengpässe, aber sie sind Teil des Puzzles. Da stellt sich schon die Frage, ob sich eine Produktion in Europa wieder lohnt. Aus Sicht von Resilienz und Sicherheitspolitik wahrscheinlich ja. Ist es einfach? Nein.

Aus Kostengründen …
Es ist sehr teuer. Und es ist die Frage, wie viel Geld wir dafür ausgeben wollen. Je nachdem, welche Modellrechnung man nimmt, kostet ein chemisches Werk mindestens 60 bis 70 Millionen, je nach Produktionsprozess auch deutlich mehr. Die Europäische Union hat jetzt den Critical Medicine Act verabschiedet, in dem sie sagt, wir wollen die europäische Produktion diversifizieren und stärken. Nur ohne entsprechende Finanzierung ist das aus meiner Sicht ein Lippenbekenntnis. Bei dem bisherigen Finanzierungsvolumen von 80 Millionen und angesichts der Tatsache, dass die Europäische Union rund 280 kritische Wirkstoffe identifiziert hat, kann man nicht erwarten, dass das zu einer größeren und messbaren Stabilität der Lieferketten führen wird. Oder zu einer signifikante Rückverlegung der Produktion aus Asien.
Alle Stakeholder im Gesundheitssystem sehen die Notwendigkeit der Resilienz. Aber es ist die Frage, wer das finanziert. Und wie wir alle wissen, ist das Gesundheitssystem ohnehin in einer gewissen Finanznot. Man hat eigentlich gar nicht die Mittel, um wieder mehr Resilienz zu schaffen.

Das ist eine sehr pessimistische Aussage.
Es mag pessimistisch klingen, aber ich denke, es ist eine sehr sachliche und realistische Aussage. Man darf nicht erwarten, dass es Resilienz zum Nulltarif gibt. Eine Rückverlagerung wird mit Kosten verbunden sein, die direkt oder indirekt auch von dem Patienten zu tragen sein wird. Entweder indirekt durch Steuern oder direkt, weil es dann doch irgendwann zu höheren Arzneimittelpreisen kommen wird. Es ist eine Wahrheit, die niemand aussprechen möchte. Mir ist aber auch bewusst, in welchem Spannungsfeld sich die Politik bewegt.

Haben Sie dennoch Hoffnung, dass die zukünftige Regierung das Problem angehen wird?
Noch vor fünf Jahren hat sich keiner mit Lieferengpässen beschäftigt, abgesehen von einzelnen Fachpolitikern. Mittlerweile ist das Mainstream. Letztendlich wird es darauf ankommen, wo die Mittel herkommen, und welche Prioritäten gesetzt werden. Die neue, aber grundsätzlich jede Bundesregierung steht vor der Herausforderung, Löcher zu stopfen. Angesichts der vielen Probleme, die in der Bevölkerung wahrgenommen werden, besteht die Gefahr, dass ein kleineres Thema auf der Strecke bleibt. Und auch im Gesundheitssystem haben wir ja viele Themen, die die Menschen beschäftigen.

Das heißt, die Lieferengpässe bleiben.
Noch kommen wir ja mit den Lieferengpässen klar. Es ist ein System, das an der Kante operiert, aber es funktioniert. Gefährlich wird es, wenn es kippt. Wo der Tipping-Point ist, lässt sich schwer vorhersagen. Irgendwie bekommen es alle hin. Der Apotheker telefoniert, der Arzt telefoniert, der Patient wartet länger. Es gibt sicher auch Einzelfälle, bei denen es zu Versorgungseinschränkungen kommt, aber insgesamt klappt es noch. Die Frage ist: Geht es auf diesem angespannt hohen Niveau weiter gut oder kippt es? Entscheidend ist auch, was geopolitisch passiert. Der Handelskrieg zwischen den USA und China kann auch indirekt Auswirkungen auf Europa haben.

Wo sehen Sie die größte Gefahr?
Bisher war es Konsens, Arzneimittel sehr vorsichtig zu behandeln. Zölle auf Arzneimittel wären ein Tabubruch. Und man muss die Frage stellen, was dann der nächste Tabubruch wäre. Eine Reduzierung des Exports von Arzneimitteln? Hinzu kommt: Ein System, das bereits an seiner Grenze operiert, wird große Probleme haben, geopolitische Schocks zu verkraften. Es würde bereits reichen, wenn es bei einer Arzneimittelgruppe wie den Antibiotika, wo wir diese immens hohe Abhängigkeit von China haben, zu einem mehrmonatigen Ausfall aus welchen Gründen auch immer käme.

Dann sind wir wieder beim Thema Geld?
Wenn man diese strukturelle Abhängigkeit lösen will, geht das nur mit viel Geld. Eine Möglichkeit ist, Anreize zu schaffen, damit wieder mehr in Puffer investiert wird. Die Politik wird Arzneimittelherstellern sicherlich keinen Freibrief geben, die Preise beliebig zu erhöhen. Aber man kann auch nicht erwarten, dass es bei margenschwachen Medikamenten mit geringer Profitabilität ohne entsprechende Kompensation zu mehr Puffern im System kommt. Man muss also immer auf das Mantra zurückkommen, dass Resilienz Geld kostet.

Zurück zum EU Critical Medicine Act. Geht er aus Ihrer Sicht in die richtige Richtung?
Der politisch erste Schritt ist, ein Problem auszusprechen und das ist in dieser Klarheit geschehen. Der zweite wichtige Punkt: Es macht bei Produktionen keinen Sinn, aus einer nationalen Brille heraus zu denken. Ein Arzneimittel- oder Wirkstoffwerk versorgt typischerweise eine ganze Weltregion, also Europa. Ein Werk für jedes Land ist wirtschaftlich vollkommen abwegig. Es ergibt daher Sinn, über Produktionsrückführungen auf europäischer Ebene nachzudenken. Der dritte Schritt ist die entsprechende finanzielle Ausstattung und da habe ich zumindest bei dem bisherigen Entwurf noch Fragezeichen, vorsichtig formuliert.