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Volles Risiko

Deutschland ist langsam – zu langsam. Zu unwillig. Zu zögerlich. Der Fortschritt bei der Digitalisierung ist eine Schnecke. Davon ist auch das Gesundheitswesen betroffen. Ob Elektronisches Rezept oder Elektronische Patientenakte – immer wieder verschoben, immer wieder veraltet, immer wieder neu konzipiert. Und wähnt man sich auf gutem Weg, hat der Datenschützer das letzte Wort. Und legt sein Veto ein. Und bremst. Und die Politik ist zu träge, das zu ändern.

Wie beim „GKV-Finanzstabilisierungsgesetz“ – der jüngsten Gesundheitsreform. Geld muss her, das ist klar. Doch eine Reform ist das nicht. Es ist Stillstand. Ein krampfhaftes Festhalten an den falschen Methoden früherer Reformgesetze. Die Trägheit ist systemimmanent. Wieder die gleichen Belastungen der Leistungsträger im Gesundheitswesen – Arzneimittelhersteller, Ärzte, Apotheker. Das geht einfach. Zu einfach. Nur keinen Gedanken an echte Reformen verschwenden. Lieber mit Risiken leben.

Nehmen wir die Pharmahersteller. Die produzieren Arzneimittel. Die Krankenkassen sind hart im Verhandeln über Preise. Sie müssen sparen. Wenn der Preis die Produktionskosten in Deutschland nicht mehr deckt, muss auch der Hersteller sparen. Produzieren kann man überall auf der Welt. Allerdings werden die Transportwege länger, die Qualitätskontrollen schwieriger, die Abhängigkeiten von fremden Staaten gefährlicher, die Ausfallrisiken enorm. Zurzeit sind hunderte wichtige Arzneimittel nicht lieferbar. Für manche gibt es nur noch einen einzigen Produktionsstandort. Weit ab im Fernen Osten. Fällt der aus ...

Die Lösung – zurück mit der Produktion nach Deutschland. Ein Riesenthema zu Beginn der Pandemie. Deutschland und die EU wollten handeln. Eile war geboten. Notwendig gewesen wäre eine Bestandsaufnahme der produktions- oder liefergefährdeten Arzneimittel. Dann konzentrierte Verhandlungen mit den Herstellern. Angebote von Industriestandorten. Zusagen von Subventionen. Pläne für Finanzbeteiligungen. Was hört man davon? Nichts. Drei verlorene Jahre. Die Trägheit triumphiert. Stattdessen im Rahmen der jüngsten Gesundheitsreform die Belastung der Arzneimittelhersteller mit einer Milliarde Euro. Dann bleibt die Produktion eben da, wo sie ist. Weit weg. Volles Risiko.

Volles Risiko auch bei der Versorgung mit Krankenhäusern in der Fläche? Deutschlands Bundesländer arbeiten einfach weiter ihre Krankenhausentwicklungspläne ab. Die sehen die Schließung zahlreicher kleinerer Kliniken vor. Die sind nicht rentabel, weil die Kassen für die Behandlungsfälle nicht die echten Kosten übernehmen, sondern nur Pauschalen zahlen. Das will man zwar auch ändern. Aber bis das bei der üblichen Trägheit des Systems funktioniert, sind zahlreiche kleinere Krankenhäuser Geschichte.

Dabei stammen die Schließungspläne noch aus der Zeit vor Putins Krieg. Jetzt ist die Bedrohung nicht nur räumlich näher gerückt. Krankenhäuser sind „kritische Infrastruktur“. Deshalb gehören die geplanten Schließungen auf den Prüfstand. „Die Veränderungen des sicherheitspolitischen Umfeldes in den vergangenen Jahren haben dazu geführt, dass auch für die Aufgaben der zivilen Verteidigung eine aktualisierte konzeptionelle Grundlage geschaffen werden musste“, so auf der Website des Bundesinnenministeriums. Passt das nicht mehr rückgängig zu machende Ende zahlreicher kleinerer Krankenhäuser überall im Land dahinein? Es muss eine neue Risikobewertung her.

Auch das Apothekensystem in Deutschland ist kritische Infrastruktur. Seit Jahren warten die Apotheken auf das Konzept irgendeines Bundesgesundheitsministers, das endlich Schluss macht mit den Benachteiligungen und Belastungen für die deutschen Apotheken. Die sind rund um die Uhr geöffnet. Sie beraten und prüfen und zeigen ihre psychosoziale Kompetenz im Umgang mit den Patienten. Sie bevorraten Arzneimittel in Milliardenhöhe als strategischer Puffer und bringen die Medikamente bis in die Wohnung. Im Impfstoffdesaster während der Pandemie haben sie bewiesen, wie souverän sie die organisatorisch anspruchsvollsten Situationen zu meistern wissen. Das hat Anerkennung gebracht. Und sonst? Belastungen in Millionenhöhe durch die neue Gesundheitsreform.

Was soll das? Reicht es nicht, dass in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als dreitausend Apotheken aus dem Markt verschwunden sind? Reicht es nicht, dass auch heute noch fast jeden Arbeitstag eine Apotheke für immer schließt? Wie dünn soll denn das Apothekennetz in Deutschland noch werden? Wie löcherig die Akutversorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln? Doch die Politik schaut zu. Mutlosigkeit oder Trägheit? Jedenfalls volles Risiko.

Deutschland muss schneller werden. Und schneller das Richtige tun.Stillstand kann man sich in dieser globalisierten Welt nicht leisten. Oder man wird durchgereicht. Denn die Fehler von morgen werden heute gemacht.

Nicht umsonst gehört „Trägheit“ zu den sieben Todsünden.