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Dr. Michael Kuck im STERN-Interview

Medikamentenmangel: Großhändler warnt vor großer China-Abhängigkeit

Stern: Herr Kuck, Sie sind Vorstandsvorsitzender des Pharmagroßhändlers NOWEDA. Ihre Genossenschaft beliefert über 8.000 Apotheken in Deutschland. Welche Medikamente sind gerade besonders knapp?

Dr. Kuck: Wir haben eine große Anzahl von Defekten. So nennen wir das, wenn wir Bestellungen nicht erfüllen können. Unter den Top 20 sind vor allem Fiebersenker und Schmerzmittel, aber auch Medikamente gegen Erkältungen. Wir könnten aus dem Stand 430.000 Packungen Fiebersaft verkaufen, wenn wir sie denn hätten. Normalerweise haben wir mindestens den Bedarf für die nächsten 14 Tage vorrätig. Dazu sind wir gesetzlich verpflichtet. Dass wir jetzt so viel nicht liefern können, ist die Katastrophe schlechthin. Ganz abgesehen von den Schicksalen, die dahinterstehen.

Stern: Haben Sie eine solche Situation schon einmal erlebt?

Dr. Kuck: Ich bin seit 2007 bei der NOWEDA. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Klar, es kommt immer vor, dass sich Bestellungen verzögern. Aber normalerweise liegt der Anteil bei zwei Prozent. Jetzt liegen wir bei sieben Prozent. Eine Verdreifachung innerhalb kürzester Zeit. Als ich hier angefangen habe, hat das Thema Lieferengpässe quasi keine Rolle gespielt.

Stern: Warum sind die Medikamente gerade so knapp?

Dr. Kuck: Eine ungewöhnlich hohe Nachfrage trifft auf ein kaputtes System. Das Ganze hat angefangen mit den Rabattverträgen der Krankenkassen. Früher war es so, dass Krankenkassen am freien Markt Blutdrucksenker einer Vielzahl von Herstellern erstattet haben. Um weitere Kosten zu sparen, hat die Politik den Kassen 2003 erlaubt, Exklusivverträge mit den Herstellern abzuschließen. 2007 kam die Verpflichtung der Apotheken dazu, diese Rabattarzneimittel vorrangig abzugeben. Wer das Medikament am billigsten anbieten kann, bekommt den Zuschlag. Alle anderen Anbieter sind für zwei Jahre raus.

Stern: Was ist daran problematisch?

Viele Hersteller haben sich aus dem Markt zurückgezogen. Wenn die größten Kassen zweijährige Exklusivverträge abschließen, ist für die restlichen Anbieter nicht mehr viel zu holen. Außerdem führte der Kostendruck dazu, dass sich die Produktion in Billiglohnländer verlagerte. Wir haben in Deutschland praktisch keine Produktion von Generika mehr. Da sind Nachahmerprodukte von Medikamenten, deren Patent ausgelaufen ist. Für sie ist der Abschluss von Rabattverträgen möglich, sie machen 80 Prozent des Arzneimittelmarktes aus.

Stern: Aber nur weil in China oder Indien produziert wird, entsteht ja kein Engpass.

Dr. Kuck: Nein, da haben Sie vollkommen Recht. Aber diese Voraussetzungen muss man kennen, um die aktuelle Lage zu verstehen. Das System ist auf Kante genäht. Es gibt für manche Wirkstoffe nur einen Produzenten und eine Fabrik weltweit. Wenn Probleme in der Lieferkette entstehen oder der Bedarf sprunghaft ansteigt, dann kann kein anderes Unternehmen einspringen, weil sich ja alle zurückgezogen haben.

Dazu kommt: Die Nachfrage nach Fiebersäften und Erkältungsmitteln ist zuletzt enorm gestiegen. Im November 2021 lag der Absatz von Paracetamol Fiebersaft deutschlandweit bei über 45.000 Flaschen, dieses Jahr lag er bei über 330.000. Ein Anstieg von mehr als 780 Prozent. Das ist Wahnsinn. Und so zieht sich das fast überall durch. Natürlich kalkulieren wir Krankheitswellen ein. Aber solche Steigerungen sind wirklich ungewöhnlich.

Stern: Hätten Sie dennoch gedacht, dass es so knapp werden könnte?

Dr. Kuck: Wir warnen seit Jahren vor dieser Entwicklung. Wir wussten schon lange, dass wir auf eine Eskalation zusteuern. Bisher konnte das System die Knappheit noch irgendwie austarieren, auch weil die Apotheken so hervorragende Arbeit machen und dort wo es möglich ist, alternative Medikationen bieten. Das geht nur mit enormem Arbeitsaufwand.

Das ganze System ist auf Kosteinsparungen gepolt. Erst kürzlich wurde das Preismoratorium für Generika verlängert. Es besagt, dass die Industrie wie schon seit vielen Jahren auch weiterhin die Preise nicht erhöhen darf. Das heißt, sämtliche Lohn und Kostensteigerungen müssen in den Betrieben aufgefangen werden.

Stern: Das heißt, noch mehr Just-in-time, weniger Flexibilität.

Dr. Kuck: Vollkommen richtig. Das ist bei uns Großhändlern auch so. Wir bekommen ein gesetzliches Honorar und das wurde seit zehn Jahren nicht mehr angepasst. Bislang haben wir es geschafft mit Kosteneinsparungen und Effizienzgewinnen weiterhin Margen zu erwirtschaften. Aber da kommen wir langsam an Grenzen. Auch das Honorar der Apotheken ist über Jahre nicht erhöht worden. Kürzlich hat der Gesetzgeber die Abschläge, die Apotheken an die Krankenkassen zahlen müssen, sogar noch erhöht.

Auch die Inflation trifft viele Hersteller massiv. Vor dem Krieg haben sie das vielleicht noch geradeso hinbekommen, jetzt schreiben sie rote Zahlen. Da fahren viele Unternehmen die Produktion runter.  

Stern: Wie gehen Sie mit der Situation um?

Dr. Kuck: Wir stehen im ständigen Kontakt mit den Herstellern. Wir sehen uns in der Verantwortung, die Ware zu bekommen. Aber letztlich können wir nicht viel machen, außer den Mangel möglichst gerecht zu verwalten.

Stern: Können die Apotheker nicht selbst Medikamente herstellen?

Dr. Kuck: Ja, bei Fiebersäften geht das. Wir bekommen auch mehr Bestellungen für Komponenten, die dafür notwendig sind. Aber: Auch die sind knapp. Und: Selbst wenn die Apotheker von morgens bis abends Fiebersäfte mischen würden, könnten sie die Nachfrage nicht bedienen. Manche Krankenkassen übernehmen die Sonderanfertigungen nicht. Wir sehen auch, dass die Nachfrage nach Antibiotika steigt. Die kann man nicht in der Apotheke herstellen.

Stern: Karl Lauterbach will in der kommenden Woche ein Gesetz gegen die Arzneimittelknappheit vorstellen. Was sollte da drinstehen?

Dr. Kuck: Der Bund sollte nicht selbst Medikamente kaufen. Das würde die Lage eher verschlimmern. Eine gute Idee wäre es, wenn das Bundesinstitut für Arzneimittel erlauben würde, dass wir Ware im Ausland besorgen. Das ist normalerweise verboten. Aus gutem Grund: Denn Fiebersaft aus Frankreich hat ja eine französische Verpackung und einen französischen Beipackzettel. Die Hinweise könnten viele Menschen nicht verstehen.

Es gab aber schon Ausnahmen: Anfang des Jahres war Tamoxifen knapp, ein Brustkrebsmedikament für Frauen. Das durften wir dann aus dem Ausland ordern. Das hat die Situation zumindest etwas gelindert. Außerdem sollte man den Herstellern für alle Arzneimittel einen Inflationsausgleich geben. Das ist heute nicht der Fall.

Stern: Und langfristig?

Dr. Kuck: Sollten wir über den Mechanismus der Rabattverträge diskutieren. Ich bin nicht gegen Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem. Aber helfen würde es, wenn für jeden Rabattvertrag mindestens drei Anbieter ausgewählt werden müssen. Dann bleibt es immerhin für drei Hersteller attraktiv im Markt zu bleiben. Das gibt es schon heute bei einigen Kassen aber eine Pflicht dazu gibt es nicht.
Und dann müssen wir natürlich die Produktion nach Deutschland, mindestens aber nach Europa zurückholen. Das wird 5 bis 10 Jahre dauern aber wir müssen das heute angehen.

Stern: Hat die Politik das auf dem Schirm?

Dr. Kuck: Es steht zumindest im Koalitionsvertrag. Nach Ausbruch des Krieges hat der Bundeskanzler das Wort der Zeitenwende geprägt. Ich finde: Wir brauchen auch eine Zeitenwende in der Arzneimittelversorgung. Stellen Sie sich vor, wir kommen mit China in einen Konflikt. Das, was passiert, wenn Xi Jinping die Medikamentenlieferung an uns einstellt, dagegen sind die ausbleibenden Gaslieferungen ein laues Lüftchen. Das wäre eine echte Katastrophe. Denn wir könnten die Medikamente nicht mal aus anderen Ländern besorgen.

Stern: Produktion in Europa heißt aber auch: Medizin wird teurer.

Dr. Kuck: Ja, definitiv. Medizin muss teurer werden. Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, haben uns vollkommen abhängig gemacht, sind hochgradig erpressbar. All das ist seit Jahren bekannt, es passiert nur einfach nichts.

Stern: Können Sie absehen, wann sich die Lage wieder entspannen wird?

Dr. Kuck: Ich hoffe, spätestens im Sommer. Dann gehen auch Erkältungen zurück. Wenn wir die grundlegenden Probleme nicht lösen, wird das immer wiederkommen.

Stern: Und was können Betroffene tun? Warten und hoffen, dass sie eine Apotheke finde, in der es noch Hustensaft gibt?

Dr. Kuck: Ich sehe keine andere Möglichkeit. Bunkern wäre unsolidarisch. Ich kann nur sagen: Wir geben alles. Die Medikamente, die wir bekommen, fließen sofort in den Markt. Der Karren ist vor die Wand gefahren. Jetzt muss die Politik endlich handeln.